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Titel
Zauderer mit Charme. Hans Schindler und die Zwänge einer Zürcher Industriellenfamilie


Erschienen
Baden 2020: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
264 S.
von
Rolf Tanner

Das in den Buchläden nach wie vor populäre Genre der Manager- und Industriellenbiographien fokussiert meist auf das «äussere» Leben der Dargestellten – auf berufliche und unternehmerische Leistungen und Erfolge. Das Menschliche bleibt dagegen oft vernachlässigt. Der Thurgauer Historiker Matthias Wiesmann hat für seine Biographie zu Hans Schindler (1896–1984), langjährigem Direktionspräsidenten der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), einen anderen Blickwinkel gewählt – er setzt beim «Innenleben» seines Protagonisten an. Allerdings «humanisiert» er das Objekt seiner Studie nicht einfach nach dem Motto «Manager sind auch nur Menschen!» (was denn sonst?). Vielmehr verzahnt er im Narrativ die Tätigkeit des Direktionspräsidenten und Mehrfach-Verwaltungsrats mit dem meist wenig erbaulichen Gemütszustand eines ständigen menschlichen Zweiflers und Zauderers.

Im Vordergrund stehen Frustrationen, Selbstbekenntnisse und die Last der Verantwortung, die Schindler aus zwinglianischem Pflichtgefühl auf sich nahm und durch eigene Schwächen noch drängender werden liess. Schindler führte von 1945 bis 1957 Tagebuch, vielleicht auch noch danach. Später verfasste er Memoiren. Vor allem auf diese Quellen stützt sich Wiesmann. Anlass für das Tagebuch war eine abenteuerliche Reise Schindlers nach China im letzten Kriegsjahr, um Exportchancen auszuloten. Wie so vieles, was er anpackte, führte das Projekt zu keinem konkreten Ergebnis. Dabei verlief seine Karriere durchaus «bilderbuchmässig»: Neben Top-Positionen in der Wirtschaft war er auch politisch tätig, präsidierte von 1952 bis 1964 den mächtigen Arbeitgeberverband Schweizerischer Maschinen- und Metallindustrieller (ASM), wirkte als Mitglied der Kirchenpflege Grossmünster, sass in ETH-Gremien und kommandierte im Militär ein Bataillon.

Schindlers Karriere war allerdings weniger Ambition und eigenem Talent geschuldet als vielmehr Herkunft und Stand. Sein Vater Dietrich Schindler hatte in das Zürcher Industriepatriziat eingeheiratet und dominierte die MFO seit der Jahrhundertwende. Jüngstes von vier Kindern, wurde Hans Schindler zum Nachfolger seines Vaters auserkoren, da sich seine Brüder entweder dem Diktat des Vaters entzogen oder als ungeeignet galten. Dietrich Schindler, ein Patriarch, konnte von der MFO nicht lassen. Er wurde schliesslich 1935 mit 79 Jahren aus der Unternehmensleitung hinauskomplimentiert. Die MFO bewegte sich damals nur noch im Kriechgang. Doch Schindler junior war nicht die Person, die ihr neue Impulse hätte verleihen können. Zwar brachte der Boom nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Aufträge. Aber die Expansion in die USA scheiterte. Schindler verfügte über schlechte Menschenkenntnis, sein Führungsstil galt als (zu) «mild». Er war auf Harmonie bedacht, er konnte nicht «Nein» sagen. Bezeichnend ist der Verlauf eines Gesprächs, das Schindler mit seinem Verkaufsleiter wegen ungenügender Leistungen führen musste. Letzterer gab offen zu, dass er für die Position nicht geeignet sei. Das Gespräch endete damit, dass Schindler und Verkaufsleiter sich gegenseitig offenbarten, in psychiatrischer Behandlung zu sein. Der Verkaufsleiter blieb auf seinem Posten (S. 219). 1957 analysierte ein auswärtiger Berater gnadenlos die Schwachstellen der MFO: «Kein Unternehmerinstinkt, Genieren vor dem Geldverdienen, Zickzackkurs, willkürliche Entscheide, entweder vom Intellekt her oder von gemeinnütziger Haltung her bestimmt, aber nicht vom Unternehmerstandpunkt» (S. 233).

Schindlers geschäftliches Drama wurde verschärft durch ein unglückliches Privatleben. Er hatte standesgemäss geheiratet, seine Gattin war die gebürtige Ilda Baumann, auch sie aus einer Industriellenfamilie. Das Paar zeugte sechs Kinder, doch die Beziehung zu ihnen war für Schindler schwierig oder inexistent. Die Ehe selbst blieb lieb- und freudlos. Ilda Schindler wählte nach der Geburt des zweiten Kindes – im Rahmen der Möglichkeiten, die sich damals für Frauen aus dieser Schicht boten – eine eigene Karriere, sie studierte Medizin und wurde Dozentin an der Schwesternschule des Roten Kreuzes. Daneben war sie eine begeisterte Alpinistin. Schindler tolerierte die Ambitionen seiner Frau. Ab den fünfziger Jahren war die Ehe zerrüttet. Doch eine Scheidung war nicht denkbar. Schindler analysiert die Misere in seinen Tagebüchern ohne Scheuklappen. Aber Veränderung lag jenseits seines Vorstellungshorizontes. Man hatte «sich zu arrangieren». 1957 wurde Schindler, wie seinerzeit sein Vater, aus der operativen Geschäftsleitung der MFO bugsiert, das Unternehmen schliesslich 1967 von der BBC übernommen. Schindler blieb aber weiterhin gefragt als Mandatsträger. Am Herzen lag ihm die Präsidentschaft des Stiftungsrats von Swisscontact, der Organisation für Entwicklungszusammenarbeit der Schweizer Wirtschaft. Privat brachte er endlich die Kraft auf, einen Schlussstrich zu ziehen: Er liess sich scheiden und heiratete nochmals. Eine gewisse Ruhe und Entspannung kam in sein Leben, er bewegte sich nun im Gleichschritt mit Neigungen und Wünschen.

Die Biographie liest sich leicht. Der Stil ist nüchtern, aber dennoch einfühlsam. Zahlreiche Abbildungen ergänzen das Schriftliche vortrefflich; eine Skizze verdeutlicht die damaligen Kreuzbeteiligungen in den Verwaltungsräten schweizerischer Unternehmen. Der Untertitel des Buchs «Hans Schindler und die Zwänge einer Zürcher Industriellenfamilie» weist aber auf ein Manko des Buches hin – die Schilderung dieser Zwänge bleibt oberflächlich. Der Leser erhält keinen vertieften Einblick in die Mechanismen und Verhaltensmuster des Züricher Wirtschafts- und Industriellenmilieus. Aber das Handeln (oder eben Nichthandeln) Schindlers erklärt sich wohl auch aus seiner Sozialisation im entsprechenden Umfeld. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit soziologischen und psychologischen Grundmustern wäre erhellend gewesen.

Zitierweise:
Tanner, Rolf: Rezension zu: Wiesmann, Matthias: Zauderer mit Charme. Hans Schindler und die Zwänge einer Zürcher Industriellenfamilie, Baden 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 192-194. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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